Auf ausgetretenen Pfaden durch die Brenta

Kai Vermehren:

Im Juli 2019 wollten wir die nächste Etappe unserer Alpenquerung von Meran nach Trient in Angriff nehmen. Doch aufgrund mangelnder Anmeldungen sagte der DAV-Summit-Club die Tour kurzfristig ab. Somit begann eine zunächst fruchtlose Diskussion über die Suche nach einem passenden Ersatz. Letztendlich blieben von der Gruppe Lasse und ich übrig und wir entschieden uns für eine Hüttentour in der Brenta.

Bei der Brenta handelt es sich um eine Gebirgsgruppe, die ungefähr auf halber Strecke zwischen Ortler und dem Gardasee liegt. Die Gipfelhöhen liegen um die 3.000 Meter. Das Gestein besteht hauptsächlich aus Dolomit. Daher wird in der italienischen Literatur die Brenta mit zur Region der Dolomiten gerechnet, obwohl die Brenta westlich vom Etschtal liegt.

Wir machten uns an einem Freitagabend auf den Weg nach Madonna di Campiglio im Trentino. Dort kamen wir am Samstag gegen Mittag an. Wir packten bei strahlendem Sonnenschein unsere Rucksäcke und machten uns auf zur Seilbahnstation, holten uns die Fahrkarten und fuhren die 800 Höhenmeter zur Bergstation „Passo del Grosté“ auf 2.438 Meter hinauf. Die Fahrt dauerte fast eine Stunde. Oben angekommen, wollten wir uns Kaiserschmarrn mit Radler gönnen. Elf Euro für ein Radler erschienen uns jedoch reichlich teuer. Somit fiel für den Hüttenwirt das Geschäft aus.

Es zogen Wolken auf und es herrschte eine Sicht, wie man sie im Flensburger Herbst kennt. Die Sichtweite schwankte zwischen fünf und 50 Meter. Wir machten uns über den „Sentiero Alfredo Benini“ zur Tuckettpasshütte auf. Der Klettersteig liegt auf einer Höhe von knapp 2.900 Metern. Mit einem Schwierigkeitsgrad von A und B handelt es sich um eine recht einfache Kraxelei. Leider verhinderte die mangelnde Sicht, dass wir andere Gipfel sehen konnten oder wir die grandiosen Tiefblicke genießen konnten.

Am späten Nachmittag stiegen wir zu unserem Tagesziel der Tuckettpasshütte ab. Wir mussten ein Schneefeld überqueren und die sehr eingeschränkte Sicht verhinderte, dass wir Orientierungspunkte auf der anderen Seite des Feldes hatten. So folgten wir einfach einer Trittspur, die – nachdem wir es mit dem Kompass kontrolliert hatten – zumindest grob in unsere anvisierte Richtung zeigte. Sie führte uns tatsächlich zu der richtigen Stelle auf der anderen Seite des Schneefeldes.

Die Tuckettpasshütte wurde 1905/1906 von der Sektion Berlin errichtet und liegt auf 2.272 Meter. Namensgeber war der englische Alpinist Francis Fox Tuckett. Heute gehört sie nach wechselvoller Geschichte dem Club Alpino Italiano. Sie hat 110 Betten.

Nach dem Frühstück stiegen wir wieder zu dem Schneefeld auf. Wir wollten über den „Sentiero Alfredo Benini“ den Einstieg des „Sentiero Bochette Alto“ erreichen. Da wir aufgrund unserer Erfahrung vom Vortag unsere Gamaschen angezogen hatten, blieben unsere Füße dieses Mal angenehm trocken.

Wir erreichten bei gutem Bergwetter den Einstieg zum Klettersteig am „Bocca del Tuckett“. Die nächsten sieben Stunden verbrachten wir mit einer munteren Kraxelei auf den Bändern der Brenta. Die Schwierigkeit überstieg nicht den Grad C. Der Weg ist sehr beliebt und entsprechend viele Bergsteiger waren unterwegs. Wir erreichten am Nachmittag die „Spalla di Brenta“ auf einer Höhe von 3.020 Metern. Von dort ging es wieder hinunter. Dabei wurde eine längere Strecke mit vielen Leitern überwunden. Am Ende der letzten Leiter landeten wir auf einem Schneefeld. Die fortgeschrittene Tageszeit führte dazu, dass der Schnee sehr weich und feucht war. Teilweise sanken wir bis zur Hüfte in diesen ein. Doch konnten wir nach dem Schneefeld noch eine Weile im Sonnenschein weiter wandern, so dass wir am Abend wieder trocken an der Alimontahütte eintrafen.

Die Alimontahütte wurde 1968 von den Bergführern Ezio und Gilio Alimonta privat errichtet. Die Hütte verfügt über 93 Schlafplätze. Sie liegt auf einer Höhe von 2.580 Metern und ist damit die höchstgelegene Schutzhütte in der Brenta.

Kurz vor Sonnenuntergang saßen wir auf der Terrasse und schauten auf den „Sfulmini-Gletscher“. Innerhalb von wenigen Minuten rauschten zwei kleine Steinlawinen über den Gletscher herunter. Das machte vielen Bergwanderern ein mulmiges Gefühl. Führt doch der Weg am nächsten Tag zum „Via delle Bochette Centrale“ direkt durch dieses Gebiet.

Wir hatten auf keiner Hütte Übernachtungen vorgebucht. Die sehr charmante Hüttenwirtin der Alimontahütte erklärte uns, dass alle Betten ausgebucht waren und machte uns klar, dass wir bis 22:00 Uhr warten müssten. Erst dann könne sie entscheiden, ob sie ein Bett für uns hätte. Oder wir sollten zur Brentaihütte absteigen und dort unser Glück versuchen. Wir entschieden uns zu warten und bekamen abends jeder ein Bett zugewiesen. Morgens war der gesamte Flur mit Matratzen ausgelegt und überall schliefen Wanderer. Es waren des nachts noch zusätzlich 17 Bergsteiger gekommen, die einen Unterschlupf in der Hütte bekamen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück stiegen wir sehr früh über den „Sfulmini-Gletscher“ zum Einstieg des „Via delle Bochette Centrale“. Aufgrund der frühen Zeit waren wir fast die einzigen dort oben. Die Weitsicht war sehr gut und die wolkenfreie Sicht gewährte grandiose Tiefblicke. Wir genossen jeden Moment auf der Tour. Mit einem Schwierigkeitsgrad B war die Kraxelei weniger mühsam als am Vortag. Allerdings waren die Bänder an mehreren Stellen abgebrochen. Wir mussten daher an einigen sehr ausgesetzten Stellen frei an Felswand klettern. Es waren zwar keine schweren Kletterstellen. Aber mit einigen hundert Metern Luft unter den Sohlen ging der Herzschlag doch ziemlich in die Höhe. Auch galt es auf der Südseite des Campanile Alto zur Mittagszeit eine Schneebrücke zu überwinden. Das war zwar mit geschickter Gehtechnik nicht sonderlich schwer. Es blieb jedoch im weichen Schnee bei der Überschreitung ein mulmiges Gefühl. Am Ende der Tour stiegen wir über ein großes Schneefeld ab zur Brentaihütte.

Die Brentaihütte wurde 1947 eröffnet. Besitzer ist der Club Alpino Italiano – Sektion Monza. Sie liegt auf 2.182 Metern und verfügt über 97 Betten. Es war für uns die letzte Station auf unserer Tour.

Am Mittwoch machten wir uns auf den Weg zurück zur Bergstation der Seilbahn „Passo del Grosté“. Zunächst kam es zu einer kleinen Kraxelei auf dem Sentiero SOSAT. Dieser Klettersteig liegt zwischen der Brentaihütte und der Tuckettpasshütte. Wir hatten die Gelegenheit, letzte Blicke auf die imposanten Felswände und Gipfel der Brenta zu werfen. Es herrschte bestes Bergwetter. Zwischen der Tuckettpasshütte und der Bergstation kamen uns hunderte von Tagestouristen entgegen. Wir konnten unterschiedlichste Menschen beobachten. Wir sahen gelangweilte Jugendliche, Kinder – die von ihren Eltern weitergetrieben wurden –, ehrgeizige Trailrunner, Mädchen in Flipflops oder auch schwitzende Väter, die ihre Kleinkinder auf dem Rücken trugen. Für viele entgegenkommende mussten die 200 Höhenmeter zwischen Bergstation und Tuckettpasshütte wie eine Tortur wirken und die angegebene Gehzeit von zwei Stunden musste für viele Wanderer wie Hohn wirken.

Wir strebten im entspannten Tempo der Seilbahnstation entgegen und genossen den strahlenden Sonnenschein. Die Wettervorhersage zeigte einen Wetterumschwung an, der für die nächsten Tage Bergtouren nicht sinnvoll machen würde.

Nach fünf beeindruckenden Tagen in der Brenta traten wir etwas vorzeitig den Heimweg an. Für uns steht fest: das war nicht unsere letzte Tour in der Brenta.

Karte: Tabacco Nr. 053 „Dolomiti di Brenta“

Führer: Klettersteigführer „Dolomiten-Südtirol-Gardasee“